Wie die Antragsfrist ab 2026 gekürzt wird – und warum das rechtlich höchst fragwürdig ist
1. Hintergrund: Neues Pflegegesetz ab 2026 – was ist geplant?

Der Bundestag hat am 06.11.2025 das „Gesetz zur Befugniserweiterung und Entbürokratisierung in der Pflege“ (BEEP) beschlossen. Der Bundesrat hat am 21.11.2025 den Vermittlungsausschuss angerufen, das Gesetz ist also noch nicht in Kraft – kann aber bereits Anfang 2026 wirksam werden.
Kernpunkt für dich als Pflegebedürftiger oder Angehöriger: Die Verhinderungspflege soll eine neue, scharfe Antragsfrist bekommen. Damit wird die bisher übliche Möglichkeit, Verhinderungspflege über mehrere Jahre rückwirkend zu beantragen, massiv eingeschränkt.
Quelle:
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/detail/gesetz-befugniserweiterung-entbuerokratisierung-pflege.html,
https://dip.bundestag.de/vorgang/gesetz-zur-befugniserweiterung-und-entb%C3%BCrokratisierung-in-der-pflege/324802,
https://dserver.bundestag.de/btd/21/015/2101511.pdf
2. Was ist Verhinderungspflege überhaupt?
Verhinderungspflege ist die Leistung der Pflegekasse, wenn deine eigentliche Pflegeperson (zum Beispiel ein Elternteil oder Partner) vorübergehend ausfällt – etwa wegen:
- Krankheit,
- Urlaub,
- eigener psychischer oder körperlicher Überlastung,
- oder aus anderen wichtigen Gründen.
Dann übernimmt die Pflegekasse die Kosten einer Ersatzpflege, z. B.:
- Pflegedienst,
- andere Angehörige,
- Freunde oder Nachbarn (je nach Konstellation).
Die Rechtsgrundlage ist § 39 SGB XI. Dort ist u. a. geregelt:
- Anspruch besteht bei mindestens Pflegegrad 2.
- Die Pflege findet in der häuslichen Umgebung statt.
- Es werden nachgewiesene Kosten einer notwendigen Ersatzpflege übernommen.
- Seit 2024/2025 wurde die Leistung mehrfach ausgeweitet (z. B. bis zu acht Wochen Verhinderungspflege, flexiblere Nutzung, Entlastungsbudget).
Quelle:
https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_11/__39.html,
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/verhinderungspflege.html,
https://www.buzer.de/gesetz/4851/al211946-0.htm
3. Bisher: Verhinderungspflege bis zu 4 Jahre rückwirkend beantragen
Der entscheidende Punkt für die Praxis ist aktuell nicht in § 39 SGB XI, sondern in § 45 SGB I geregelt.
§ 45 SGB I sagt seit Jahrzehnten:
- Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind.
- Für Hemmung, Ablaufhemmung und Neubeginn gelten die Verjährungsregeln des BGB.
Für die Verhinderungspflege heißt das heute:
- Ersatzpflege im Jahr 2022 → Verjährung grundsätzlich erst am 31.12.2026.
- Ersatzpflege im Jahr 2023 → Verjährung erst am 31.12.2027.
- Ersatzpflege im Jahr 2024 → Verjährung erst am 31.12.2028.
Solange diese Frist noch läuft, kannst du die Verhinderungspflege nachträglich beantragen, wenn du Belege hast. Genau darauf beruht die verbreitete Praxis, Verhinderungspflege bis zu vier Jahre rückwirkend abzurechnen.
Quelle:
https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__45.html,
https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbi/45.html,
https://dejure.org/gesetze/SGB_I/45.html,
https://rvrecht.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/rvRecht/01_GRA_SGB/01_SGB_I/pp_0026_50/gra_sgb001_p_0045.html
4. Seit wann gilt die 4-Jahres-Regel – und warum ist das Vertrauen so stark?
Die Frage „Seit wann darf ich eigentlich vier Jahre rückwirkend beantragen?“ ist wichtig für die verfassungsrechtliche Bewertung.
- Das Sozialgesetzbuch I (SGB I) wurde 1975 beschlossen und ist zum 01.01.1976 in Kraft getreten.
- § 45 SGB I wurde damals als allgemeine Verjährungsregel für alle Sozialleistungsansprüche eingeführt.
- Der Kern – vier Jahre nach Ablauf des Entstehungsjahres – ist seitdem unverändert geblieben. Anpassungen betrafen vor allem Verweise auf das BGB-Verjährungsrecht, nicht die 4-Jahres-Länge selbst.
Schon vor 1976 gab es in einzelnen Sozialgesetzen ähnliche Verjährungsfristen. Mit dem SGB I wurde das aber vereinheitlicht:
Eine einheitliche Verjährungsregelung für das gesamte Sozialleistungsrecht.
Das bedeutet:
- Seit rund 50 Jahren gehen Bürger*innen, Beratungsstellen, Behörden und Gerichte davon aus, dass Sozialleistungen – auch die Verhinderungspflege – vier Jahre rückwirkend geltend gemacht werden können.
- Dieses Vertrauen ist nicht „zufällig“, sondern Ergebnis jahrzehntelanger, konsistenter Rechtsanwendung.
Wenn der Gesetzgeber heute diese 4-Jahres-Linie für einen zentralen Leistungsbereich ohne echten Bestandsschutz bricht, ist das verfassungsrechtlich besonders sensibel.
Quelle:
https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/BJNR030150975.html,
https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__45.html,
https://www.haufe.de/id/norm/sgb-i-allgemeiner-teil-45-verjaehrung-HI15138408_p45.html,
https://rvrecht.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/rvRecht/01_GRA_SGB/01_SGB_I/pp_0026_50/gra_sgb001_p_0045.html
5. Was ändert das neue Verhinderungspflege-Gesetz konkret?
Mit dem BEEP-Gesetz soll § 39 SGB XI geändert werden. Der Bundestag will eine besondere Antragsfrist einführen, die die 4-Jahres-Frist für Verhinderungspflege faktisch ersetzt.
Kern der geplanten Neuregelung (vereinfacht):
- Der Antrag auf Erstattung der Verhinderungspflege muss
bis zum Ablauf des Kalenderjahres gestellt werden, das auf die Durchführung der Ersatzpflege folgt. - Wird der Antrag später gestellt, besteht der Anspruch nicht mehr.
Beispiele nach der geplanten Logik:
- Ersatzpflege im Jahr 2025 → Antrag spätestens 31.12.2026.
- Ersatzpflege im Jahr 2026 → Antrag spätestens 31.12.2027.
Aus Fachartikeln und Pressemeldungen ergibt sich außerdem:
- Ab 2026 sollen Leistungen der Verhinderungspflege praktisch nur noch für
das laufende und das unmittelbar vorherige Kalenderjahr abgerechnet werden können. - Mehrjährige Sammelanträge („ich reiche alles gesammelt der letzten 4 Jahre ein“) würden damit weitgehend unmöglich.
Quelle:
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/detail/gesetz-befugniserweiterung-entbuerokratisierung-pflege.html,
https://dserver.bundestag.de/btd/21/019/2101935.pdf,
https://www.altenheim.net/bundestag-beschliesst-neues-pflegegesetz/,
https://pflege-dschungel.de/beep-2026/,
https://www.pkv.de/positionen/gesetzentwurf-der-bundesregierung-zur-befugniserweiterung-und-entbuerokratisierung-in-der-pflege/
6. Übergang 2022–2025: Der verfassungsrechtlich kritische „harte Schnitt“
Besonders problematisch ist der Umgang mit den Jahren 2022, 2023 und 2024, also Leistungen, die es bereits gibt, die aber noch nicht beantragt wurden.
Nach bisheriger Rechtslage (§ 45 SGB I):
- 2022 → verjährt 31.12.2026
- 2023 → verjährt 31.12.2027
- 2024 → verjährt 31.12.2028
Überträgt man die geplante neue Ausschlussfrist auf diese Jahre, ergibt sich:
- Ersatzpflege 2022 → letzte Chance nach neuer Logik: 31.12.2023
- Ersatzpflege 2023 → letzte Chance: 31.12.2024
- Ersatzpflege 2024 → letzte Chance: 31.12.2025
Wenn das Gesetz zum 01.01.2026 ohne besondere Übergangsregelung in Kraft tritt, heißt das:
- Ab 2026 können erstmals gestellte Anträge für 2022, 2023, 2024 mit Verweis auf die neue Frist abgelehnt werden – obwohl nach § 45 SGB I eigentlich noch Verjährungszeit übrig wäre.
- Die Ansprüche werden nicht nur zeitlich „verkürzt“, sondern faktisch vernichtet, wenn bis Ende 2025 kein Antrag gestellt wurde.
Anders gesagt:
Wer sich auf die seit 50 Jahren geltende 4-Jahres-Verjährung verlassen hat, kann ab 2026 bei Verhinderungspflege aus 2022–2024 plötzlich leer ausgehen.
Quelle:
https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__45.html,
https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbi/45.html,
https://dserver.bundestag.de/btd/21/019/2101935.pdf,
https://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2025/0301-0400/365-1-25.pdf
7. Verfassungsrechtliche Bewertung: Unechte Rückwirkung und Vertrauensschutz
Juristisch spricht man hier von unechter Rückwirkung:
- Die Neuregelung soll ab 2026 gelten,
- sie knüpft aber an Sachverhalte an, die bereits in der Vergangenheit liegen (Verhinderungspflege 2022–2024),
- und verschlechtert nachträglich die Möglichkeit, diese Ansprüche noch geltend zu machen.
Das Bundesverfassungsgericht sagt:
- Echte Rückwirkung (rückwirkende Änderung abgeschlossener Sachverhalte) ist grundsätzlich unzulässig.
- Unechte Rückwirkung ist nur dann zulässig, wenn:
- das Vertrauen in die alte Rechtslage nicht übermäßig enttäuscht wird und
- gewichtige Gründe des Gemeinwohls die Änderung rechtfertigen.
Im Fall der Verhinderungspflege sprechen mehrere Punkte gegen die Zulässigkeit der konkreten Ausgestaltung:
- Langjährig gefestigtes Vertrauen
- § 45 SGB I mit der 4-Jahres-Frist ist seit 1976 unverändert Grundnorm für Sozialleistungsansprüche.
- Bürger*innen durften sich darauf verlassen, dass auch bei Pflegeleistungen diese Frist gilt.
- Hohe Eingriffsintensität
- Es werden bereits entstandene, noch nicht verjährte Ansprüche (2022–2024) durch eine neue Frist verkürzt und de facto gestrichen, wenn nicht bis 31.12.2025 beantragt wird.
- Vulnerable Zielgruppe
- Pflegebedürftige und pflegende Angehörige sind häufig überlastet, krank oder kognitiv eingeschränkt – also gerade keine Gruppe, die kurzfristig auf komplexe Gesetzesänderungen reagieren kann.
- Fehlende echte Übergangsregelung
- Anders als z. B. beim Kindergeld (Begrenzung auf 6 Monate rückwirkend) gibt es bisher keine klare Übergangsphase mit Bestandsschutz für Altjahre.
- Die Änderung droht praktisch „über Nacht“ zu wirken.
Diese Punkte legen nahe, dass die konkrete Ausgestaltung der Antragsfrist – so wie aktuell beschlossen – verfassungswidrig sein könnte, jedenfalls soweit sie Altansprüche ohne Übergang abschneidet.
Quelle:
https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__45.html,
https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/BJNR030150975.html,
https://rvrecht.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/rvRecht/01_GRA_SGB/01_SGB_I/pp_0026_50/gra_sgb001_p_0045.html,
https://www.haufe.de/id/norm/sgb-i-allgemeiner-teil-45-verjaehrung-HI15138408_p45.html
8. Vergleich: Warum das anders ist als die 6-Monats-Frist beim Kindergeld
Ein gern genutztes Argument lautet: „Beim Kindergeld geht rückwirkend auch nur noch 6 Monate – das ist doch anerkannt.“
Wichtig ist aber der Unterschied:
- Beim Kindergeld wurde die 6-Monats-Begrenzung mit einer klar geregelten zeitlichen Anwendung eingeführt.
- Es wurde definiert, ab wann und für welche Anträge die neue Frist gilt, sodass Familien eine gewisse Möglichkeit hatten, sich darauf einzustellen.
- Die Gerichte haben die Regelung auch mit Blick auf diese Übergangslogik beurteilt.
Die Verhinderungspflege-Regelung in der aktuellen BEEP-Fassung:
- enthält keine detaillierte Übergangsregelung für Altjahre 2022–2024,
- betrifft eine Personengruppe mit deutlich höherer struktureller Überforderung,
- und greift in ein seit Jahrzehnten einheitliches Verjährungssystem des Sozialrechts ein.
Deshalb lässt sich der Kindergeld-Fall nicht einfach 1:1 übertragen. Vielmehr ist die Verhinderungspflege-Regel in ihrer konkreten Form angreifbarer, was Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit angeht.
Quelle:
https://www.haufe.de/steuern/steuerwissen-tipps/6-monatige-beschraenkung-beim-kindergeld_170_487212.html,
https://www.bundesfinanzministerium.de,
https://www.bundesfinanzhof.de
9. Praxisbeispiele: Wer ab 2026 konkret Geld verlieren könnte
Beispiel 1: Mutter mit psychisch krankem Kind
- Pflegegrad 4, alleinerziehend, mehrere Klinikaufenthalte und Krisenphasen.
- 2022–2024 wurde mehrfach Verhinderungspflege genutzt (Pflegedienst, Großeltern).
- Belege wurden gesammelt, aber wegen Überlastung noch nicht eingereicht.
Nach bisheriger Rechtslage:
Alle Jahre wären 2026 noch rückwirkend abrechenbar.
Nach der neuen Frist:
Alles, was nicht spätestens Ende 2025 beantragt ist, könnte ab 2026 weg sein.
Beispiel 2: Pflegender Ehepartner mit Burnout
- Ehepartner pflegt zu Hause, eigene Depression und Burnout.
- Ersatzpflege im Jahr 2023 und 2024, aber keine Kraft für Anträge.
- Erst 2026 wird ein Antrag gestellt.
Nach neuer Logik:
- Verhinderungspflege 2023 und 2024: Frist abgelaufen → kein Anspruch mehr.
- Tausende Euro sind verloren, obwohl die Pflege tatsächlich stattgefunden hat.
Beispiel 3: Familie ohne Beratung
- Verhinderungspflege wurde nie beantragt, obwohl regelmäßig jemand einspringt.
- Die Familie erfährt erst 2026 von der Möglichkeit der Erstattung.
Nach derzeitiger Planung:
- Für 2022–2024 wäre es dann zu spät.
- Nur 2025 (und später) könnte noch teilweise gerettet werden.
Diese Beispiele zeigen: Die neue Antragsfrist ist nicht nur „theoretisch“, sondern kann ganz konkret zu erheblichen finanziellen Verlusten führen – gerade bei denjenigen, die ohnehin am Limit sind.
Quelle (Hintergrundinfos Verhinderungspflege und Entlastungsbudget):
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/verhinderungspflege.html,
https://www.pflege.de/altenpflege/verhinderungspflege/,
https://flexxi.care/de/blog/verhinderungspflege-antrag-alle-kassen-2025,
https://www.gute-pflege.de/leistungen/stundenweise-verhinderungspflege/
10. Was solltest du 2025 konkret tun?
Solange das Gesetz noch nicht in Kraft ist, gilt weiter die 4-Jahres-Regel nach § 45 SGB I. Das ist deine Chance, Ansprüche zu sichern, bevor es eng wird.
Schritt 1: Alle Jahre prüfen
- Prüfe, ob du in den Jahren 2022, 2023, 2024, 2025 Verhinderungspflege genutzt hast.
- Sammle Rechnungen, Quittungen, Verträge und Dokumente (Pflegedienst, Privatpersonen, Assistenzkräfte).
Schritt 2: Sammelantrag stellen
- Stelle einen Sammelantrag auf Verhinderungspflege für alle offenen Jahre.
- Reiche ihn schriftlich bei der Pflegekasse ein (per Post, Fax oder Online-Portal).
- Sichere dir einen Zugangsnachweis (Einschreiben, Fax-Sendebericht, Screenshot des Uploads).
Schritt 3: Auf alte Rechtslage hinweisen
Formuliere in kurzen Worten z. B.:
„Der Antrag erfolgt im Vertrauen auf die seit Jahrzehnten geltende Vier-Jahres-Verjährungsregelung des § 45 SGB I. Für die Jahre 2022–2024 waren die Ansprüche nach bisheriger Rechtslage noch nicht verjährt.“
So machst du deutlich, dass du dich auf die alte, gefestigte Rechtslage stützt.
Schritt 4: Ablehnung nicht einfach akzeptieren
- Wenn die Pflegekasse in Zukunft mit der neuen Ausschlussfrist argumentiert,
solltest du Widerspruch einlegen und – falls nötig – Klage beim Sozialgericht erheben. - In der Begründung kannst du dich auf Vertrauensschutz, unechte Rückwirkung und die seit 1976 bestehende 4-Jahres-Regel berufen.
Quelle:
https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__45.html,
https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbi/45.html,
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/verhinderungspflege.html,
https://pflege-dschungel.de/beep-2026/
























